Schlange
von thalasso wave, Erstveröffentlichung 2012

Ich stehe gerne in Schlangen. Nur das Schlangestehen bringt die besten Tugenden im Menschen hervor: Geduld, Ausdauer, Beharrlichkeit und nicht zuletzt Standvermögen. Und am Ende erwarte einen das ultimative Erfolgserlebnis, der süße Lohn. Am Ziel seiner Träume kann man reich entlohnt an all Jenen vorbei gehen, die noch immer in der Schlange ausharren und ihnen mit dem Gesichtsausdruck, der nur Siegern zu eigen ist, sagen: Schaut her! Ich habe es geschafft! Vor euch!

Diese Schlange jedoch hat es in sich, vor allem Menschen, die vor mir stehen. Nichts bewegt sich. Gestern soll sie sogar rückwärts gegangen sein, munkelt man hinter mir. Vermutlich alles nur Propaganda, um die weiter vorne zu entmutigen. Mich lässt das kalt. Ich stehe hier, ich kann nicht anders, egal was die Leute sagen. Aber irgendwie vorwärts sollte es schon gehen.

Wenn sich eine Schlange nicht bewegt, muss man ihr Bewegung verschaffen, sie ausdünnen. Es soll Zeiten gegeben haben, in denen man Ansammlungen von Menschen mit dem Ruf "Freibier!" hatte auflösen können. Hier und heute würde sich bestenfalls eine Handvoll vorsichtig erkundigen, ob das Bier auch frisch gezapft sei, ohne den Platz in der Schlange zu verlassen, versteht sich. Ohne Not weicht hier niemand einen Handbreit. Entmutigen kann man bestenfalls das Ende der Schlange. Jene davor werden mit aller Entschlossenheit kämpfen. Hauptsache, es geht voran.

Beim iPad sei es schlimmer gewesen, versuchen sich einige Trost und Mut zuzusprechen. Mag sein. Da war ich nicht dabei. Obwohl ich als klassischer "First Achiever" durchaus Willens gewesen wäre, mir für eines der ersten Exemplare die Beine in den Bauch zu stehen. Zumindest bis ich diesen Streber mit seinem Flachcomputer in der Kantine sah, der Wochen vor dem hiesigen Verkaufsstart in die USA geflogen war, um sich in die dortigen Schlangen für so ein Tablett zu stellen. Hatte nicht übel Lust gehabt, ihm die Suppe über das teure Teil zu kippen.

Aber wozu die Vergangenheit betrauern, ich stehe im Hier und Jetzt. Vielleicht schon ein bisschen zu lange. Immerhin habe ich es schon bis in die Eingangshalle geschafft und muss nicht mehr draußen frieren, wie viele andere. Außerdem kann ich schon die Verkaufsschalter sehen. Alles im grünen Bereich. Auch ist die Schlange noch verhältnismäßig wohl geordnet. Hier wurde nichts dem Zufall überlassen. Vermutlich haben international renommierte Queueing-Designer die Infostände und Verkaufsdisplays so geschickt in den Weg gestellt, um die Traube von Menschen zu verhindern, die man hierzulande gerne für eine Schlange hält.

Zeit die Veranstaltung ein wenig aufzumischen. Die Gelegenheit ergibt sich, als jemand von draußen herein ruft, dass der Porsche die Feuerwehrzufahrt blockiere. "Es ist immer der Porsche!" ruft jemand von vorne. Ich nutzte die Chance, um die Wartenden zu verunsichern und zu polarisieren.

"Es ist nicht immer der Porsche," rufe ich zurück. "Normalerweise nehme ich den Geländewagen, aber den braucht gerade meine Frau zum Zigaretten holen!" Die gewünschte Unruhe kommt auf. Mein Vordermann dreht sich zu mir um: "Gut, dass es Ihrer ist. Ich dachte schon es wäre meiner!"

Es ist der Besitzer eines Bioladens. Sein Geschäft läuft gut. Um seine Kunden nicht zu vergraulen, parkt er seinen Sportboliden immer auf dem großen Parkplatz des Discounters eine Straße weiter. Ich warte auf meine Chance. Als jemand von draußen ruft, der Porsche würde jetzt abgeschleppt, informiere ich den Bioraser vor mir, dass ich entgegen seiner Annahme mit dem Fahrrad gekommen sei. Mit einem beiläufigen Schritt nach vorne schließe ich die entstandene Lücke. Die Schlange verzeiht keine Fehler.

Natürlich versuchen immer einige rücksichtslose Zeitgenossen, sich weiter nach vorne zu mogeln. Als erfahrener Schlangesteher kenne ich jedoch alle Tricks. Der Rettungssanitäter, der vorgibt weiter vorne einen Einsatz zu haben, wird gnadenlos abgeblockt. Den kenne ich. Er ist zwar tatsächlich beim Roten Kreuz, aber die Methode hat einen eben so langen Bart wie die Schlange selbst. Außerdem mag ich ihn nicht. Ich habe ihn oft im Theater im Einsatz gesehen, schlafend in der ersten Reihe.

Einmal bot ich ihm vor einer Vorstellung an, seinen wunderbaren Platz mit meinem in den hinteren Rängen zu tauschen, wo ihn auch beim Schlafen niemand sehen könne. Er entgegnete nur entrüstet, da seien seine Wege beim Einsatz zu lang. Das hat er jetzt davon.

Als weiter vorne nach einem Arzt gerufen wird, weil eine ältere Dame zusammengebrochen ist, reagieren die Schlangesteher allerdings sofort in vorbildlicher Weise. Nach dem Vorbild einer Eimerkette wird die leblose Frau beherzt nach hinten durchgereicht, wo sich der Drängelsanitäter ihr annehmen kann. Das nenne ich Einsatz. Aber dann fallen wir doch auf den Pizzaboten rein. Alle äußeren Insignien eines typischen Fast-Food-Beförderers sind vorhanden: unrasiert, großes Kellnerportemonnaie hinten in den Gürtel gesteckt, zerschlissene Jeans, grob kariertes Hemd und die am Boden leicht schimmelnden braune Styroporbox auf der Schulter, aus der es nach Oregano, Zwiebeln und Knoblauch riecht. Ich kann seinen zerbeulten Kleinwagen, den er mitten auf der Straße mit eingeschaltetem Warnblinker abgestellt hat, durch ein Fenster sehen. Alles absolut authentisch. Doch als er die Spitze der Schlange erreicht hat, drängelt er sich rein, öffnet seine Box und isst die Pizza selbst.

Jetzt nur keine Panik. Tief durchatmen, durchlässig werden. Gleich kommt meine große Stunde, der kurze Moment, der das Warten wert war. Endlich habe ich den Schalter erreicht. Ich bin dran! Mit zitternden Händen lege ich meinen Ausweis und die Benachrichtigungskarte aus meinem Briefkasten hin. "Dafür hätten Sie aber nicht anstehen müssen," sagt der Postbeamte. "In der Vorweihnachtszeit können Sie zum Paketabholen direkt nach vorne kommen."

© 2012 www.simon-verlag.de

Mehr lesen ...

    Simon Verlag   Papa, mach ganz!   Impressum